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Das "andere" Rollenspiel
#1
Was soll anders werden? Ich werde die Gedanken aus zwei Perspektiven darlegen. 1) Wie es nicht sein soll. Dabei handelt es sich größtenteils um den Status Quo im Rollenspiel, der mir nicht besonders gefällt. 2) Wie sieht die konkrete Alternative aus. Hier gibt es mehr oder weniger konkrete Alternativvorschläge.

Noch davor steht die Beobachtung, dass das Regelsystem das Spiel beeinflusst, das Spiel in eine bestimmte Bahn lenkt. Wenn ein System insgesamt 100 Seiten Regeln hat und sich 80 davon mit physischem Kampf befassen, ist sofort klar, in welche Richtung die Regeln das Spiel "ziehen" werden. Alles theoretische und analytische Gerede, das nun folgt, hat das klare Ziel, irgendwann in konkrete Regeln gegossen zu werden, die das Spiel ganz konkret in eine bestimmte Richtung "ziehen".

Erster Punkt, der mir am Herzen liegt: die Ressourcen im Spiel. Typischerweise konzentrieren sich die Ressourcen auf den Charakter. Es sind seine Talente, Fertigkeiten, seine Ausrüstung. Im Laufe des Spiels nehmen diese Ressourcen zu, klassischerweise durch Stufenanstieg. Weil der SC alles, was er zum Leben braucht, an und in sich hat, ist er sehr unabhängig. Ein Effekt davon ist, dass kaum ein SC wirklich in seiner Welt verankert ist. Es gibt keine wirklichen Verbindungen, keine Netzwerke, keine Abhängigkeiten. Familie und Freunde sind praktisch nie existent (außer auf dem Papier, das nie spielrelevant wird). Die Spielergruppe schwebt in einer Seifenblase über die Welt. Berührungspunkte gibt es nur mit dem Abenteuer.

Für viele Leute ist das ein Feature und das sei ihnen unbenommen. Hier geht es aber ausdrücklich um eine Alternative für einen anderen Geschmack. Und die Alternative ist: Ressourcen konsequent vom Charakter in die Umwelt verlagern. Niemand soll ein Überlebensalleskönner sein, und selbst die Gruppe soll nicht dazu werden. Die SCs sollen zu Rädchen im Getriebe werden. Sie drehen andere Rädchen, werden im Gegenzug selbst gedreht und brauchen andere Rädchen, um selbst drehen zu können. Die SCs sollen nicht losgelöst über der Welt schweben, sie sollen mittendrin und fest verankert sein.

Im "anderen" Rollenspiel gibt es erstmal keine Werte für Schleichen, Orientierung, Jagen, Fallen entschärfen, Kämpfen usw. Das alles macht den Char unabhängig von anderen und das wollen wir im "anderen" Rollenspiel ja vermeiden. Stattdessen gibt es Werte für Freunde, Partner, Feinde, Untergebene usw. Das sind soziale Ressourcen. Daneben vergeben wir konkrete Werte auch an materielle Ressourcen: Steinbruch, Eisenmine, Wald, Felder, Vieh. Die Regeln sollen auf diese Weise den Fokus verlagern. Weg vom Charakter, hin zur Umwelt.

Für die sozialen Ressourcen erstellen wir eine konkrete Beziehungsmatrix und erreichen damit, dass der SC ein integriertes Teil einer sozialen Struktur wird. Dann schwebt er nicht losgelöst darüber, sondern steckt mittendrin.

Fangen wir mit Charakterverbindungen an:*
- Verwandtschaft
- Sex
- Freundschaft
- Feindschaft
- Verpflichtungen (gegenüber Obrigkeit, aber auch gegenüber Untergebenen)

Interessante Charakterverbindungen enthalten eines der drei Elemente:*
- Jemand will Hilfe vom Charakter
- Jemand will etwas gegen den Charakter unternehmen
- Jemand will den Charakter benutzen

*habe ich mir nicht selbst ausgedacht, sondern aus irgendeinem Rollenspiel übernommen, womöglich Reign, ich weiss es nicht mehr.

Beziehungen entwickeln eine Eigendynamik, die man mathematisch auf den Punkt bringen kann. Ich habe das Gefühl, dass genau das in Regeln gegossen werden muss, um ein ganz neues Rollenspielerlebnis möglich zu machen. Fangen wir damit an, jeder Beziehung einen Wert zu vergeben: + / - / 0
Positiv / Negativ / Neutral
Das Interessante ist, dass Beziehungsdreiecke immer nach einem stabilen Zustand streben und auseinanderfallen, wenn das nicht gelingt. Heißt konkret: Wenn du mit zwei Menschen befreundet bist, die sich gegenseitig nicht leiden können, gibt es zwei Möglichkeiten: a) du versöhnst die beiden, dann ist die Beziehung zwischen allen positiv, oder b) du bleibst nur mit einem der beiden befreundet.

Selbst in einem überschaubaren sozialen Netzwerk gibt es sehr viele verschiedene Beziehungsdreiecke. Man picke sich einen beliebigen davon raus und verändere die Beziehung, z.B. von negativ zu positiv. Das stört unweigerlich das Gleichgewicht an anderer Stelle. Theoretisch geht bei so einer Modellierung niemals der Konfliktstoff aus! Das Schöne daran ist zusätzlich, dass die Konflikte ebenfalls in die soziale Struktur integriert sind.

Ok, das ist viel Text mit wenig Struktur, und richtig konkrete alternative Regeln sind auch nicht drin. Ich lasse das einfach mal so stehen. Mit etwas Glück ist genug Inspiration drin, dass es jemand aufgreift, ansonsten werde ich das ergänzen, bis der Punkt erreicht ist, wo der Funke überspringt.
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#2
Das ist tatsächlich ein Ansatz, den ich in der Form noch nirgends gesehen habe und den ich nicht schlecht finde.

Schwebt dir für diese Idee schon eine konkretere Vorgehensweise vor, anhand der du das entwickeln willst, oder soll das vorerst Theorie ohne Verankerung bleiben?
Ein konkreter Bezug könnte vielleicht besser sein.

Als mögliches Setting für so ein Spiel würde ich z.B. eher eines hilfreich finden, welches in einer Fremdversorgergesellschaft spielt, also modern oder SF. Ich bin mir aber auch nicht sicher. Was würde dir denn bisher vorschweben? Und was für Plots willst du damit abwickeln? Könnte das um etwas politisches gehen?

Ansonsten finde ich es cool, dass man Recourcen hat, die auch der Kontrolle von anderen untergeordnet sind (z.B. Freunde). Ich weiß nur nicht ob ein Problem darin liegt, deren Recourcen ebenfalls verwalten zu wollen (also mit wem allem diese dann befreundet sind). Bzw. frage ich mich, wie man das verwaltet. Gibt das dann so ein Beziehungsdiagramm auf dem Charakterbogen?

Eine weitere Überlegung ist auch, ob es tatsächlich ein System sein soll, wo man wirklich gar nichts alleine tun kann.
Bemalte Minis 2013: 39 • 2014: 23 • 2015: 58 • 2016: 44 • 2017: 104 • 2018: 5 • 2019: 122 • 2020: 140 • 2021: 52 • 2022: 231 • 2023: 49...
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#3
Bezüglich Setting bin ich gedanklich immer bei Mittelalterfantasy. Persönliche Vorliebe ist der einzige Grund dafür. Meines Erachtens spricht nichts dagegen, es in Neuzeit oder SF umzusetzen.

Politische Plots stehen gedanklich im Mittelpunkt. Allgemeiner gesagt geht es mir um soziale Aspekte im Rollenspiel. Weg vom Monstermetzeln.

Die Frage nach dem Ausmaß der Verwaltung muss vorerst offen bleiben, da mir keine Erfahrungswerte vorliegen. Rein theoretisch muss das nicht ausarten. Es werden die relevanten Ressourcen verwaltet, was auch sonst der Fall ist. Nur die Art der verwalteten Ressourcen ändert sich. Was die relevanten und zu verwaltenden Ressourcen sind, ist vom Spieldesigner zu bestimmen. Im Mittelaltersetting können das sein: fruchtbares Land, verschiedene Erzminen, Befestigungsanlagen, Untergebene, gesellschaftliche Stellung. Kontakte sind eine mittelbare Ressource, mit der man die Ressourcen der Kontaktleute für sich aktivieren kann. Genauso wird man jedoch von den Kontaktmännern aktiviert und muss für diese seine eigenen Ressourcen zur Verfügung stellen.

Die Frage nach Beziehungsdiagramm ist interessant. Im kleinen Rahmen kann man C-Webs verwenden. Ich finde eine weitere Möglichkeit extrem spannend, die in der Forschung verwendet wird. Dazu zwei Artikel, die aus dem Links des ersten Beitrags entnommen sind:
http://www.pnas.org/content/early/2010/12/27/1013213108
http://arxiv.org/abs/physics/0501073
Beide Studien sind zum freien Download freigegeben.

Die Soziologen erstellen eine zweidimensionale Matrix (also in Excel umsetzbar) mit n mal n Feldern, wobei n die Anzahl der Personen im Netzwerk ist. Jede Personenbeziehung wird mit einem Zahlenwert versehen (positiv oder negativ).
Eine mathematische Gleichung beschreibt, wie sich die Beziehungen weiterentwickeln. Sie ist erstaunlich genau in der Vorhersage realer Ereignisse.

Was bedeutet das für das Rollenspiel? Wenn jemand mit Programmierkenntnissen ein kleines Script auf der Basis dieser mathematischen Gleichung programmiert, haben wir einen sozialen Metaplotgenerator! Dann können wir beliebig viele Personen oder Parteien mit einem Klick verwalten. Das Script berechnet, wie sich die Beziehungen verändern.

Zur letzten Frage: man kann in diesem "anderen" Rollenspiel natürlich auch Sachen alleine machen. Das hat dann entsprechende Konsequenzen auf die Ressourcen des Charakters. Wer mit einem Bettler beginnt und in die Welt auszieht, hat wenig zu verlieren, dafür aber die Chance, sich irgendwo zu verankern und Ressourcen in Form von Eigentum oder Beziehungen aufzubauen. Wenn der Char ein König ist und dieser beschließt für zwei Jahre einen Drogentrip nach Indien zu unternehmen, wird er seine Stellung verlieren.

Soweit die Antworten. Nächster Ideeninput meinerseits werden Hierarchien und Charakterantriebe. Hierarchien sind wichtig für sozialpolitisches Rollenspiel. Mir sind aus Rollenspielen keine Hierarchieregeln bekannt. Charakterantriebe sollen eine plottreibende Funktion haben. Nicht der SL in Gestalt eines Auftraggebers soll den SCs einen Antrieb verleihen. Die SCs sollen neue Regelwerte erhalten, die ihnen einen inneren Antrieb verleihen.
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#4
Ich habe einige Ideen im Kopf, was man in diesem Spiel machen könnte (z.B. Simulation eines Reiches mit Rohstoffquellen, Einwohnern und Infrastruktur).
Allerdings fällt es mir schwer, darin die Möglichkeit zur klassischen Tätigkeit des Rollenspiels zu finden. Nämlich: Spieler unterhalten sich mit dem SL und untereinander um Dialoge zwischen Spielfiguren zu führen und ihre gemeinsamen, persönlichen Aktionen zu beschreiben.
Mir fällt auch im Moment keine konkrete Spielidee dazu ein, bei der mehrere Spieler auf Augenhöhe an einem Strang ziehen und gleichwertiges Spotlight bekommen.
Versteh mich nicht falsch, ich finde die prinzipiellen Ideen ziemlich cool.
Aber irgendwie "riecht" mir die ganze Sache eher nach Computerspiel, Postspiel oder Brettspiel.
Könntest Du mal ganz grob eine konkrete Spielidee beschreiben, die ein Rollenspiel darstellen würde, damit ich verstehen kann, was dir für ein Spiel vorschwebt?
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#5
Berechtigter Einwand.

Konkrete Spielidee: Kaiser Karl der Große fährt durch seine Ländereien. Der tat das wirklich, hatte keinen festen Wohnsitz. Und was tut er auf diesen Reisen? Er unterhält sich mit seinen Untergebenen, den Herzögen und Grafen. Schlichtet Streitigkeiten, z.B. zwischen zwei Herzögen, die sich um ein Stück Wald nicht einig werden. Fällt Beschlüsse, z.B. über eine neue Steuer. Verhandelt mit Kirchenmännern, damit sie an der Basis (also beim einfachen Volk) gut über ihn sprechen. Dafür muss er den Kirchenmännern Gegenleistungen zustehen. Diese müssen von irgendwas bezahlt werden. Ein Kriegszug zwischendurch muss auch mal sein, um einen Herzog abzusetzen, der sich anmaßt, ein eigenes Königreich auszurufen. Dazu muss der Kaiser seine Untergebenen kontaktieren und ihre Kriegsmobilisierung veranlassen. Seine Herzöge finden gute Vorwände, um das nicht einfach so zu tun (die Truppen sind bereits in einem Grenzkonflikt in den Bergen gebunden, außerdem war die letzte Ernte so schlecht, ...). Erneut sind Zugeständnisse gefragt. Zwischendurch ist ein Turnier angesagt, auf dem drei Grafen zugegen sind, die alle um eine Nachfolgerposition buhlen. Beim Turnier muss eine Entscheidung her. Die ist nicht einfach: der eine Graf ist besonders reich, aber sehr eigensinnig, der andere ist sehr loyal, aber recht arm, der dritte ist super, hat aber seine Tochter ins englische Königshaus eingeheiratet, ist also mit dem feindlichen Lager verbandelt.
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#6
Gute Idee, solche Vorstellungen (in kleinerem Maßstab) hatte ich auch schon.
Also schwebt dir tendenziell ein One-to-one-Spiel vor (also ein SL und ein Spieler)?
Bemalte Minis 2013: 39 • 2014: 23 • 2015: 58 • 2016: 44 • 2017: 104 • 2018: 5 • 2019: 122 • 2020: 140 • 2021: 52 • 2022: 231 • 2023: 49...
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#7
Das ist offen, weil nicht systemrelevant. Ich habe auch schon mit mehreren SLs und einem SC experimentiert, also der Umkehrung der üblichen Verhältnisse.

Grundsätzlich denke ich schon an einen SL und 2-3 Spieler. Das können z.B. ein Ritter, seine Wanderhure und sein Knappe sein. Oder der Graf mit seinem Sohn und seinem Berater/Sekretär.

Immer wenn eine Gruppe unterwegs ist, muss es für die Gruppe einen Grund geben, zusammen zu halten. In jedem Rollenspiel. In meiner Erfahrung hat es nie gute Gründe gegeben. Es ist wie ein stilles Tabu, dieses Thema im Spiel überhaupt anzuschneiden, weil alle ahnen, dass das System für dieses Problem keine Lösung parat hat. Wir haben uns immer mit scheinheiligen Argumenten begnügt, nach dem Motto "och, ich hab grad eh nix besseres zu tun, also gehe ich mit euch Fremden mit".

Das Problem ist also keineswegs ein neues. Ich frage mich, ob es eine Bedeutung hat, dass du es auf den Plan holst. Man könnte es so interpretieren, dass das "andere" Rollenspiel echte Konsequenzen verspricht; dadurch würde die Frage nach dem Gruppenzusammenhalt brennend, weil sie üblicherweise durch Inkonsequenzen geregelt ist. Wink

Jetzt wieder ernsthafter. Wie oben angedeutet, kann das Problem im anderen Rollenspiel konsequent gelöst werden. Die sozialen Beziehungen erhalten grundsätzlich Werte für ihre Richtung und Intensität. Das wird für die SCs nicht anders sein. Logischerweise werden die SCs mit positiver Richtung und hoher Intensität miteinander verknüpft, so dass die Regeln selbst einen Zusammenhalt fördern werden.

Ein möglicher Einwand könnte sein, dass bei der Konstellation Ritter/Weib/Knappe das Heldenpotential ungleich verteilt ist. Das wäre in einem klassischen Rollenspiel der Fall, weil alle Ressourcen am Charakter festgemacht sind. Im anderen Rollenspiel nehmen wir den SCs aber bewusst die Ressourcen weg. Viel entscheidender sollen die Verbindungen in die Umwelt sein, um von dort Ressourcen zu aktivieren. In dieser Hinsicht gibt es prinzipiell keine Unterschiede zwischen Ritter, Weib und Knappe.

Ach ja. Ressourcen aus der Umwelt aktivieren statt Ressourcen am Leib besitzen. Das ist eine griffige Beschreibung für einen mir sehr wichtigen Grundsatz.
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#8
Hierarchien organisieren jeden Teilbereich des menschlichen Miteinander. Die Neigung zur Hierarchiebildung ist sehr alt, wir teilen sie mit großen Teilen des Tierreichs. Hierarchien wirken konfliktmindernd, das ist ihre Hauptfunktion. Wenn Ressourcen knapp sind, entscheidet die Hierarchie darüber, wer als erster darf, wer die besten Stücke bekommt, wer mehr bekommt und wer sich mit den Resten begnügen muss.

Rollenspiele klammern diesen Aspekt komplett aus. Warum eigentlich? Als mögliche Erklärung fällt mir nur die Parallele zum Trickstermythos ein. Trickster beinhalten das Paradox, einerseits übermächtig zu sein, andererseits aber in der sozialen Hierarchie bedeutungslos zu sein. Das ist typisch für Rollenspielhelden. Genug Ressourcen am Leib, um König zu werden, aber im Endeffekt nur für sich selbst verantwortlich und alle darüber hinausgehende Verantwortung hilflos ablehnend. Aber gut, die Ursachenanalyse ist auch nicht so wichtig. Sie zeigt auf, von welchem Zustand ich das "andere" Rollenspiel distanzieren möchte.

Die Hierarchien sollen eindeutig verregelt werden. Das ist nicht so einfach, weil es nicht die eine Hierarchie gibt. Man kann in der Fußballmannschaft ganz oben stehen und Kapitän sein, in der Familie irgendwo im Mittelfeld stecken und auf der Arbeit ein unbedeutender Knilch sein, auf dem alle herumtreten. Es müssen also die relevanten Lebensbereiche identifiziert werden, die man dann auch verregelt. Im Mittelaltersetting können das sein: Politik, Religion, Militär, Familie.

Am einfachsten ist das Militär zu beschreiben, hier wird auch der größte Wert auf die Befolgung der offiziellen Hierarchie gelegt. Nehmen wir das als Beispiel und erstellen eine Hierarchieleiter:
General
Major
Hauptmann
Feldwebel
Gefreiter

Im Beispiel sind fünf Stufen. Wie viele Stufen braucht man aber? Das ist nicht beliebig. Der Fachterminus heißt "Leitungsspanne" und beschreibt die Anzahl der unmittelbar Unterstellten eines Vorgesetzten. Gehen wir zunächst von einer Leitungsspanne von 10 aus. Das bedeutet, dass ein Vorgesetzter 10 Untergebene vernünftig händeln kann. Unser General hat also 10 Majore, diese haben je 10 Hauptmänner usw. Damit kommen wir auf eine Armee von 10.000 Mann. Wenn unsere Armee größer oder kleiner sein soll, ändert sich entsprechend die Anzahl der Hierarchiestufen.

Eine naheliegende Frage lautet, ob 10 ein gutes Maß für die Leitungsspanne ist. Als Ausgangswert schon, aber in der Praxis gibt es natürlich größere und kleinere.

Kleine Leitungsspannen (z.B. nur 5 Untergebene pro Vorgesetztem) führen zu tiefen Hierarchiebäumen mit mehr Stufen. Eine solche Organisation ist bürokratisch, träge, langsam. Der Informationsverlust ist groß. Wenn sich jemand an der Basis beschwert und die Beschwerde über 20 Instanzen gehen muss, kommt - nach dem Prinzip der stillen Post - oben irgendwas an, nur nicht die ursprüngliche Beschwerde. Der Vorteil kleiner Leitungsspannen liegt in der geringeren Verantwortung für den Einzelnen. Im Zweifelsfall muss man nicht selbst entscheiden, sondern delegiert die Entscheidung nach oben oder unten ab.

Wählt man für eine Organisation eine kleine Leitungsspanne (und damit eine tiefe Hierarchie), dann bildet man ein stark strukturiertes, stark organisiertes, aber auch ein träges System ab. In der Regel handelt es sich um Organisationen, die seit sehr langer Zeit bestehen. Nehmen wir bei unserem Armeebeispiel die römische Armee.

Große Leitungsspannen (z.B. 20 Untergebene pro Vorgesetztem) führen zu flachen Hierarchien. Die Organisation ist schnell, flexibel, die Informationswege sind kurz, der Informationsverlust gering. Der Chef kann jedoch pro Untergebenem weniger Zeit für die Kontrolle aufwenden. Das bedeutet, dass die Untergebenen mehr Verantwortung tragen. Sie müssen selbst entscheiden und können nicht jedes Problem mit dem Chef besprechen. Der Chef muss seinen Leuten blind vertrauen können, weil er sie kaum kontrollieren kann. Im Armeebeispiel können das die germanischen Barbarenhorden sein.

Ich glaube, man muss kein großer Experte werden, um die Grundsätze dieses Modells zu verinnerlichen. Eine bürokratische, perfekt durchorganisierte Barbarenarmee kommt uns schon rein intuitiv nicht in die Tüte. Die sind chaotisch und unberechenbar. Eine flache Hierarchiestruktur verleiht dieser Tatsache Rechnung. Bei der römischen Armee wiederum können wir uns keine Chaostruppe vorstellen. Wo aber viel Ordnung ist, muss auch eine dichte Hierarchie sein.

Zusammenfassend:
Kontrollorganisation: kleine Leitungsspanne, tiefe Hierarchie
Vertrauensorganisation: große Leitungsspanne, flache Hierarchie
Mit der Wahl der Leitungsspanne bestimmen wir als Designer den Auftritt ganzer Organisationen. Indem wir nur eine einzige Zahl festlegen!

Das bisher besprochene erlaubt die Einschätzung aus der Vogelperspektive. Damit können wir als Designer die Struktur ganzer Organisationen bestimmen. Wir gestalten damit das Setting. Daneben brauchen wir Werkzeuge für die persönliche Ebene, um konkrete SCs/NSCs zu gestalten. Ich habe das im Blickfeld, das kommt in einem der späteren Beiträge.

Zunächst ein weiteres Beispiel. Strukturieren wir mal ein Dorf durch. Eine Familie hat 5-8 Mitglieder. Vater, Mutter und ihre 3-6 Blagen. Vater ist der Chef. Seine Leitungsspanne: <8.
Der Großvater steht an der Spitze der Großfamilie. Er gibt sich aber in dorfpolitischen Fragen nur mit seinen Söhnen ab. Die Großväter bilden zusammen den Ältestenrat. Sind es mehr als 8, dann können wir im Ältestenrat einen Vorsitzenden bestimmen, der gesondert die Spitze des Eisbergs darstellt.

Somit haben wir im Dorf drei bis vier Hierarchiestufen.
- Der Dorfälteste repräsentiert das ganze Dorf.
- Die Großväter vertreten ihre Großfamilien im Ältestenrat.
- Die Väter vertreten ihre Familien in der Großfamilie.
- Frauen und Kinder stehen in der Hierarchie unten (sind deswegen aber keineswegs machtlos! Das wird Gegenstand weiterer Regeln sein).
8 Älteste x 3 Söhne x 6 Familienmitglieder = 144 Dorfbewohner. Ist das grob geschätzt ein vernünftiges mittelalterliches Dorf? Mit den Großvätern und Vätern ergeben sich aus der Hierarchiestruktur direkt die wichtigen Ansprechpartner. Man muss also keineswegs alle Dorfbewohner ausarbeiten, wenn man ein NSC-Dorf vorbereitet. Wenn die SCs als Fremde ins Dorf kommen, werden sie als hochrangige Menschen mit den Dorfältesten zu tun haben; als Durchreisende mit ein paar der Vätern, die als Schmied/Wirt tätig sind.

Das Auszuarbeitende Umfeld hängt grundsätzlich von der Position der involvierten SCs ab. Das Umfeld umfasst immer drei Hierarchieebenen:
- Der Vorgesetzte
- Kollegen der gleichen Ebene
- Untergebene

Nach oben buckeln, nach unten treten - da ist selten Spannung zu erwarten. Das Groß der Konflikte spielt sich auf der Ebene ab, auf der sich der SC selbst befindet. Die 7 Herzöge des Königs konkurrieren untereinander unablässig um die Gunst des Königs. Sie kämpfen dabei miteinander, also auf ihrer eigenen Hierarchieebene.

Seltener, aber nicht minder spannend sind ebenenübergreifende Konflikte. Es kommt nicht alle Tage vor, dass ein Herzog sich entschließt, seinen König zu entmachten und dessen Position einzunehmen. Aber wenn er sich dazu entschließt, kann man daraus eine ganze Kampagne machen.
Hin und wieder wird der Herzog von unten angegriffen, von einem seiner Grafen. Das sind aber ebenso seltene Fälle. Im Normalfall versucht man gar nicht den Oberen zu entmachten, weil der Obere nicht zufällig oben ist, sondern weil er über mehr/bessere Ressourcen verfügt. Wenn ein Herzog putscht, kann der König im Normalfall auf alle anderen Herzöge als unterstützende Ressource zurückgreifen. Der putschende Herzog muss also schon unrealistisch mächtig sein. Realistischer ist, dass er die anderen Herzöge für sich zu gewinnen versucht. Was wiederum bedeutet, dass er auf seiner eigenen Hierarchieebene tätig wird.

Man merkt schon, irgendwelche Barone und Ritter spielen eine sehr untergeordnete oder gar keine Rolle, wenn die Spieler als Herzog (+Gefolge) unterwegs sind. Im Fokus steht eindeutig und massiv die eigene Hierarchieebene. Bei einer Leitungsspanne von 10 sind es 10 Konkurrenten/Kollegen, um die sich das Spiel dreht. Der Vorgesetzte kommt dazu. Diese Übersichtlichkeit bleibt bestehen, egal was man im Spiel vorhat. Ob als Familienvater, als Dorfältester, als Bischof, als Hauptmann, als Herzog oder als König. Die Hierarchieregeln ziehen stets eine sehr enge Grenze von spielrelevanten NSCs.
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#9
Okay, das Konzept von enger zusammengebundenen Gruppen hört sich gut an. Ich habe das bereits vor Jehren erkannt und überlege mir deshalb immer etwas plotrelevantes, womit man die Spieler stark aneinander binden kann. Dafür benötigt man aber kein System. Das ist Plot bzw. dessen Ausgangssituation für die Charaktere.

Was die konsequente Ausrichtung auf Fremdversorgung und Hirarchien angeht bin ich etwas zwiegespalten.

Erstens finde ich Hirarchieunterschiede zwischen Spielercharakteren immer etwas problematisch, weil viele ungern eine Untergebenenrolle spielen, und die meisten für die Führungsrolle nicht genügend eigene Expertise mitbringen. Aber das soll ja dann wohl durch eine Systematik geregelt sein, oder?

Ganz persönlich halte ich die vollkommene Ausrichtung auf Fremdversorgung auch etwas zu krass. Eine eigene gute Leistungsfähigkeit halte ich im Spiel für sehr gut. (Die vollkommene Abwesenheit von eigener Leistungsfähigkeit führt zu einem miesen Selbstwertgefühl und das wiederum zu anderen sozialen Problemen.)
Allerdings sollte es die Möglichkeit geben, die Leistungsfähigkeit der eigenen Ziele zu vervielfachen, indem man sich anderer Recourcen bedient.
Vielleicht habe ich dich auch falsch verstanden, im Prinzip könnte man sagen, dass ich ein großer Fan der Realität bin. Wenn Rollenspiel die Charaktere nicht zu Superhelden macht und es Möglichkeiten gibt, die Umwelt zu nutzen, dann fände ich das toll. Normalerweise bieten ja Rollenspiele eher Settings an, in denen sich der Superheld in einer weitgehend feindlichen Welt bewegt und es nur um die Zerstörung des persönlichen Umfeldes geht.
Ich denke, dass ein Setting, das zu Beginn chaotisch ist, und durch die Spieler im Verlauf des Spiels sinnvoll geordnet werden kann eine gewisse Neuigkeit darstellen könnte. Das ist letztenendes auch so ein Projekt von mir, das gar nicht so einfach ist: positives, konstruktives Spiel.

Eine erfolgreiche Hirarchie hat übrigens eher ein 1:5-Verhältnis. 1:10 ist schon viel zu viel um noch kontrollierbar zu sein.
Da gibt es so eine bestimmte Fix-Zahl (hat einen Namen, den ich nicht mehr weiß), die sich auf die Anzahl der gleichzeitig wahrnehmbaren Teile bezieht. Bei den meisten Menschen ist diese Zahl 5. Bei sehr wenigen 6. Bei extrem wenigen 7.
Will heißen, dass z.B. Arbeits- oder Besprechungsgruppen nicht größer sein sollten als 5 (+ einen Leiter), weil sonst unweigerlich Leute rausfallen bzw. deren Anwesenheit nicht mehr gleichzeitig wahrgenommen wird.
US-Marines haben z.B. eine konsequente 1:3-Führungsordnung.
Bemalte Minis 2013: 39 • 2014: 23 • 2015: 58 • 2016: 44 • 2017: 104 • 2018: 5 • 2019: 122 • 2020: 140 • 2021: 52 • 2022: 231 • 2023: 49...
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#10
Du hast mich falsch verstanden. Die persönlichen Ressourcen in Form von Skills sollen keinesfalls gestrichen werden. Ich möchte ihre Bedeutung reduzieren, aber gewiss nicht bis zur Bedeutungslosigkeit. Es gibt super banale Gründe dafür, dass sie bisher nicht zur Sprache gekommen sind. Zum einen bin ich einfach noch nicht dazu gekommen, weil ich die neuartigen Ideen zuerst darstellen möchte. Weiterhin gibt es schon so extrem viele Regelkonzepte für die Darstellung von Skillressourcen, dass ich hoffe, gar nicht selbst was ausdenken zu müssen. Im Idealfall kann ich eins der bestehenden Systeme 1:1 übernehmen und mit dem sozialen System integrieren. Irgendein Skillsystem wird es auf jeden Fall geben. Es wird nicht so zentral und nicht so detailliert sein wie häufig üblich (DSA, D&D).

(07.01.2012, 06:57)Niceyard schrieb: Erstens finde ich Hirarchieunterschiede zwischen Spielercharakteren immer etwas problematisch, weil viele ungern eine Untergebenenrolle spielen, und die meisten für die Führungsrolle nicht genügend eigene Expertise mitbringen. Aber das soll ja dann wohl durch eine Systematik geregelt sein, oder?
Mangelnde eigene Expertise ist meines Erachtens der Hauptgrund dafür, dass diese Themen im Rollenspiel überhaupt nicht auf den Tisch kommen. Das Ziel besteht ganz klar darin, ein Regelsystem mit tragender Rolle aufzubauen. Parallele zum Kampf: Kaum ein Rollenspieler hat echte Expertise im Kämpfen. Braucht er auch nicht, weil die Regeln genug Power haben, um aus sich heraus einen Kampf zu leiten. Das soziale System wird also Regeln haben müssen, die soziales Spiel auch dem Unkundigen ermöglichen. Das ist ja von Anfang an ein Grundanspruch an all den vorgestellten Ideenkram.

Gegen Leute, die Unterordnung im Rollenspiel nicht aushalten können, will ich gar nicht erst etwas unternehmen. Sie fallen als Zielgruppe ohnehin weg, weil sie sich per Regel so oder so unterordnen müssen - wenn nicht unter einen Mitspieler-Char, so unter den Vorgesetzten aus der nächsthöheren Hierarchieebene.

Das "andere" Rollenspiel ist für erwachsene Menschen gedacht. Trotzig-pubertierende interessieren mich nicht. Das nur zur Klarstellung. Und jetzt, wo die Nicht-Zielgruppe sich beleidigt abgewendet hat und wir wieder unter uns sind, kann ich auch verraten, dass es durchaus Möglichkeiten gegen kann (vielleicht soll, das ist im Moment nicht vorhersagbar), sich dem Hierarchiegeschehen in mehr oder weniger großen Teilen zu entziehen. In der Realität gibt es das auch. Nicht jeder will mittendrin sein, andere beeinflussen und seinen Willen durchsetzen. Manche Menschen sind damit zufrieden, ein Leben als Eigenbrötler zu führen. Sie entziehen sich im Rahmen des Möglichen dem Einfluss der anderen, verlieren damit aber im gleichen Maß die Möglichkeit, selbst Einfluss zu nehmen. Das Regelsystem wird das hoffentlich graduell abbilden können. Die zuständigen Mechanismen sind in Form von Bedürfnissen und Motiven im Char verortet und wurden noch nicht vorgestellt. Kommt noch.

(07.01.2012, 06:57)Niceyard schrieb: Eine erfolgreiche Hirarchie hat übrigens eher ein 1:5-Verhältnis. 1:10 ist schon viel zu viel um noch kontrollierbar zu sein.
In manchen Organisationen ist starke Kontrolle nicht gewünscht. Viele Unternehmen führen z.B. bewusst sehr flache Hierarchien ein, um flexibel zu sein. In anderen Organisationen ist starke Kontrolle aufgrund der situativen Einflüsse gar nicht möglich. In wiederum anderen Organisationen ist starke Kontrolle einfach nicht nötig, weil alle am gleichen Strang ziehen. Meinen Recherchen zufolge gibt es die perfekte Leitungsspanne nicht.

Wichtig ist die Unterscheidung zwischen Person und Umwelt. Ein Verhältnis von 1:5 notiere ich mir gedanklich als wünschenswerte Grenze aus persönlicher Sicht. Die Umwelt hat jedoch eigene Anforderungen, die sich häufig nicht um unsere individuell bevorzugten Grenzen scheren (welcher Zeitarbeiter will schon vollzeit für 900 Brutto im Monat arbeiten?). Umweltanforderungen sind als eigenständiger Faktor zu betrachten. Sie müssen nicht zu den gleichen Erfordernissen führen wie die persönlichen Vorlieben oder Leistungsgrenzen. Aus Personsicht mag es also eine ideale maximale Leitungsspanne von 5 geben. Weil die Umwelt sich aber nicht darum schert, gibt es auch Organisationen mit deutlich größeren Leitungsspannen.

Ich möchte beide Faktoren in die Regeln einbeziehen. Die Umweltperspektive habe ich im vorigen Beitrag integriert, als wir aus der Vogelperspektive Organisationen konstruiert haben. Jetzt ist eine gute Gelegenheit, auf den gleichen Sachverhalt aus der Froschperspektive zu blicken.

Die Anzahl der möglichen Unterstellten eines Charakters bestimmt sich aus dem Produkt von Leitungskapazität und Leitungsqualität.

Leitungskapazität ist die zur Verfügung stehende Zeit für Leitungsaufgaben. Wer vollzeit als Führungskraft arbeitet, kann natürlich mehr Untergebene betreuen als jemand, der halbzeit beschäftigt ist. Oder im Mittelalterbeispiel: Wenn der Herr Baron in seiner Burg ist und nichts anderes tut als seine Leute zu befehligen, erzielt er natürlich bessere Ergebnisse, als wenn er die Hälfte der Zeit mit Waldspaziergängen verbringt. Das ist der Zeitfaktor.

Wer Führungstalent hat, kann mehr Menschen beaufsichtigen und lenken. Ich habe bereits Motive als systemrelevante Personeigenschaften angesprochen. Eins davon, das Durchsetzungsmotiv, ist der direkte Gradmesser für Führungsqualität.

Als zusätzlicher Faktor ist ein Skillbezug möglich. Manche Menschen sind von Natur aus Führungspersönlichkeiten. Wenn so einer berufsmäßig leitende Positionen besetzt, z.B. als General, kann der Beruf als weiterer positiver Faktor einbezogen werden. Zum Talent kommen Routine und Erfahrung hinzu.

Und wenn man es noch differenzierter will, kann die Komplexität der Aufgabe auch noch verrechnet werden. Anspruchslose Fließbandarbeit braucht weniger Aufsicht als die Entwicklung neuer Katapultsysteme. Ein mäßig talentierter Peitschenschwinger reicht aus, um auf dem Sklavenschiff 50 Ruderer zu beaufsichtigen. Bei einer Schlacht reicht ein General nicht für die Aufsicht von 50 Offizieren aus, selbst wenn es ein guter General ist.
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